Jeder Schritt muss sitzen. Der Weg ist nicht markiert, nicht auf einer Karte, nicht auf Schildern entlang der Felsen. Sehr wohl aber im Kopf von Dominik. Er ist Wanderleiter, mit ihm bin ich hier für mehrere Tage zwischen den imposanten Felswänden des Rätikon unterwegs. Diese Bergwelt bildet die Grenze zwischen Schweiz und Österreich – und während sie Kletterer längst anlockt, sind die alpinen Wege zwischen den Wänden meist menschenleer.

Franziska und Dominik stehen an einem Hang am Berg.

Ganz unbekannt ist mir diese Region mit ihren steilen Wänden und den imposanten Felsgipfeln nicht – wenn ich sie auch kaum wieder erkenne. Das letzte Mal, dass ich hier unterwegs war, war der Boden unter meinen Füßen meterhoch mit Schnee bedeckt. Ich hatte Schneeschuhe an den Füßen, keine Wanderstiefel. An meiner Seite aber war auch im Winter schon Dominik.

Dominik kennt die Region wie seine Westentasche. Besser vielleicht sogar – das Rätikon und die Gipfelwelt rings um St. Antönien sind sein Abenteuerspielplatz, seit etlichen Jahren schon, seit er hier zuhause ist.

„Im Sommer“, sagte Dominik und deutete mit dem Arm in die Richtung, in die wir gerade mit unseren Schneeschuhen stapften, „– im Sommer machen wir dort hinten eine hübsche Runde“.

Dominik hält seine Versprechen. Ich ebenso. Genau dort hinten sind wir gerade unterwegs, an einer steilen Flanke zwischen Gras und Fels.
Während Dominik seine Begeisterung darüber, im Jetzt und Hier in dieser gigantischen Bergwelt unterwegs zu sein, kaum zügeln kann, ertappe ich mich immer wieder dabei, wie ich etwas ratlos auf den Streckenabschnitt vor uns blicke.

Franzsika und Dominik stehen auf einem Hügel.

„Der Berg ist selten so, wie er von unten ausschaut.“

Das ist Dominiks Antwort auf die Frage, die ich noch nicht einmal gestellt habe. Dominik hält immer wieder an und erklärt mit ausgestrecktem Arm, wo er uns in den nächsten drei Tagen entlang führen wird. „Dort laufen wir den Grat entlang“, erklärt er. „Entlang der Flanke hier, über das Geröll dort hinten, durch die Schneefelder danach.“
Dominik zeichnet die komplette Route in die Luft. Wechselt den Blick dabei immer wieder – vom Berg, zu mir, zum Berg, zu mir.
Die Route setzt sich zusammen wie ein Puzzle. Vom ersten Gipfel aus, dem des Schollbergs, lag sie schließlich vollständig zu unseren Füßen.

Dominik mit ausgestreckten Armen. Er erklärt Franziska wo sie die nächsten Tage entlang wandern werden.

Dennoch kann ich mir einfach nicht vorstellen, dort hinten, dort drüber oder dort unten langlaufen zu können, ohne mehr Luft als Berg unter den Füßen zu haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es zwischen diesen Graten, Flanken, zwischen dem Geröll und dem Schnee einen Weg geben kann, auf dem unsere Wanderschuhe Platz haben.

Aus meiner Perspektive ist das Gelände nichts als steile Hänge und felsige Abgründe.

Für genau dieses Gefühl aber bin ich losgezogen. Denn das ist es, was alpines Wandern abseits von markierten Wegen ausmacht: dass wir selbst Routen suchen und den Berg vor uns lesen können. Dass wir dann schließlich doch alle Pläne über den Haufen werfen, wenn sich der Berg aus der Nähe anders präsentiert, als wir es aus der Ferne vermutet hätten.

„Das kommt schon gut“, sagte Dominik wieder. „Wenn du erst mal dort stehst, sieht das alles ganz anders aus, du wirst sehen. Schritt für Schritt.“

Franziska Consolati beim Trekking in der Schweiz.
Trekking in der Schweiz: Franziska beim bergauf wandern.
Trekking in der Schweiz: Franziska blickt auf die steilen Felswände, die sich vor ihr auftun.

Schritt für Schritt. So wandern wir jetzt entlang der steil abfallenden Flanke, die uns vom Schollberg Richtung Schijenflue führen soll. Während ich einen Fuß vor den anderen setze, den Blick genieße und den Duft der Alpenrosen, liegt ein anderes Gelände vor mir, als ich es mir von weiter unten vorgestellt habe.

Blumen, Berge und eine Hütte in der Schweiz.

Dominik hatte Recht, natürlich hatte er Recht. Und so versuche ich auch, ihm zu vertrauen, als er auf die Felswand gleich vor uns deutet, die mehrere hundert Meter hoch steil in den Himmel ragt. Die Schijenflue. Von ihrer Spitze aus wollen wir nämlich morgen früh den Sonnenaufgang bewundern. Auf der Rückseite der Felswand schlängelt sich unser Weg nach oben, der keiner ist.

Die Vögel haben noch nicht zu ihrem Morgenkonzert angesetzt, als wir am nächsten Tag unsere Rucksäcke schultern.

Es ist genau so hell, dass wir die weißen Felswände in der Nacht schimmern sehen. Direkt vor uns: die beeindruckende Schijenflue. Ein 2.626 Meter hoher Gipfel, der, wie es scheint, aus einem einzigen, steil in den Himmel ragenden Fels besteht. Unser Ziel für diesen Morgen ist es, von seiner Spitze aus die Sonne aufgehen zu sehen.

Während wir durch die stille Morgenwelt laufen, sind wir ruhig. Der Mond ersetzt unsere Stirnlampen, wir hören einen Bach gluckern, ein paar Mal, wie Steinböcke über das Geröll klimpern. Obwohl ein heißer Tag vorhergesagt ist, ist die Luft frisch und leicht. In Serpentinen lassen wir die Vegetation hinter uns, auf einer Seite sehen wir den Nachthimmel über der Schweiz, auf der anderen den über Österreich. Wir sind irgendwo dazwischen, in einer einsamen Bergwelt, in der Grenzen sowieso keine Rolle spielen.
Als wir die steinige Rückseite der Schijenflue erreichen, fangen die Gipfel in der Ferne langsam an, Orange zu leuchten. Der Himmel über uns ist noch Dunkel, als wir Schritt für Schritt durch Felsen und über Geröll steigen.

Morgensonne strahlt auf Berge des Rätikons.

Der Sonnenaufgang auf 2.626 Metern über null ist einer dieser Momente, bei denen wir schon währenddessen wissen, dass wir sie nie wieder vergessen werden. Er ist Teil dieses großen Ganzen: dieser Wanderung ohne Wege, wild, einsam und echt.
Ganz bestimmt werden wir ihn auch in Erinnerung behalten, weil es kaum etwas Magischeres gibt, als in jeder Himmelsrichtung ein Meer aus Gipfeln zu bestaunen, dass seine Farbe langsam wechselt. Dunkelblau, blassgrau, violett, orange. Mit jedem Wimpernschlag, mit jedem Auslöser der Kamera, ist die Farbe eine andere. Nach und nach fangen die Gipfel an zu strahlen, die Felswände des Rätikon leuchten, und es dauert nicht lange, da erhebt sich der orange Sonnenball genau zwischen zwei Gipfeln, die am Horizont ein V bilden.

Dominik nahe eines Gipfelkreuzes.

Diese Magie zieht sich durch den Wandertag, als wir von der Schijenflue zur Wiss Platte queren. Durch ein zerfurchtes Felsgelände, das die Geschichte eines Gletschers erzählt, der sich mit gewaltiger Kraft ins Tal geschoben hat. Die Felsen sind groß wie Autos, manche ganz weich, rund, wellenförmig. Andere scharf und spitz wie eine Klinge. Die Magie hält an, als wir in der Mittagshitze auf der Wiss Platte stehen und auch dann, als wir von blanken Felsen in ein Meer aus Alpenrosen wechseln.

Kurz bevor wir unser Tagesziel erreichen, die Carschinahütte des Schweizer Alpen-Clubs, fällt mir auf, dass wir nur zweimal für einen kurzen Moment anderen Wanderern begegnet sind.

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„Wie ich’s versprochen hab“, sagt Dominik mit einem Zwinkern.

Auf diesen letzten Metern erzählt er, dass er genau das schon immer gesucht habe: die wilde Natur und ihre Einsamkeit. Das Gespräch ist längst nicht zu Ende, als die Sonne an diesem Tag wieder unter geht.

Die beeindruckende Felswand der Schijenflu sehen wir dieses Mal von ihrer Vorderseite, und auch die berüchtigten Gipfel der Drii Türm, das Schweizer Tor und die Schesaplana strahlen im warmen Sommer-Sonnenuntergang.

Wir sitzen auf der Terrasse der Hütte und Dominik erzählt von Routen, die ihm schon länger im Kopf herumgeistern. Er deutet nicht länger auf die, die er kennt, sondern malt Wege in die Luft, die er ausprobieren möchte. Es gibt einige, vielleicht aber ändert sich unterwegs wieder alles.

Sonnenaufgang über dem Rätikon.

„Wir müssen verstehen, dass die Natur die Routen vorgibt.“

Sobald er die Welt der Berge betritt, handelt Dominik intuitiv, er passt sich an das an, was ihm der Berg vorgibt. Am Ende nämlich spielt es keine Rolle, wo genau wir laufen, ob wir die Wege in- und auswendig kennen. Oder noch nie gesehen haben. Die Berge schreiben immer neue Geschichten für die, die genau hinsehen.

Zum Nachwandern

Übernachtung & Verpflegung
Das Bergsteigerdorf St. Antönien ist das Tor zum Rätikon auf Schweizer Seite und ein guter Ausgangspunkt für Wanderungen. Die Berghäuser Sulzfluh und Alpenrösli auf der Alp Partnun sind gute Übernachtungs- und Verpflegungsmöglichkeiten für Mehrtagestouren. Außerdem die weiter oben gelegene Carschinahütte des Schweizer Alpen-Clubs. Wer weiter wandern möchte, kann von dort aus zur Schesaplanahütte laufen.

Geführte Touren
Wer die Bergwelt des Rätikon abseits der markierten Wege, aber in Beisein eines Wanderleiters erkunden möchte, kann zu Dominik Karrer über seine Website www.2000plus.ch Kontakt aufnehmen.

Weitere Impressionen des Rätikons:

Bergführer Dominik
Franziska und Dominik wandern durch felsiges Gelände bergab.
Dominik wandert durch felsiges Gelände hinunter.
Wolken über den Bergen des Rätikons.
Franziska mit ihrem Tatonka Pyrox Tourenrucksack auf dem Rücken.